2002 Essay

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Boxes. Eine Einführung in die Kunst René Rietmeyers

von Peter Lodermeyer 2002

 

Die Arbeiten des niederländischen Künstlers René Rietmeyer tragen seit 1997 die Bezeichnung ”Boxes”. Dieser Name ist keineswegs nur als Titel einer umfangreichen Werkreihe zu verstehen, vielmehr benennt er die eigentümliche künstlerische Gattung selbst, der seine Werke angehören. Rietmeyer arbeitete zunächst ausschließlich mit den klassischen Mitteln traditioneller Malerei, mit Leinwand und Ölfarbe, die ganz konventionell mit Pinseln und Spachteln auf den Untergrund aufgetragen wurde. Auch die Art seiner Farbbehandlung entspricht klassischer, handwerklich solider Malerei. Dies zeigt sich etwa in den Kontrasten von glatt vertriebenen und pastos aufgetragenen Farbpartien oder im schichtweisen Aufbau der Farben, der - unter Ausnutzung der rauen Leinwandstruktur – reizvolle Oberflächenstrukturen erzeugt, vibrierende Farbwirkungen, die Rietmeyers Gespür für subtile koloristische Reize eindrucksvoll belegen.  

Dennoch handelt es sich bei  den Boxes nicht um Gemälde, gleichgültig, ob man diesen Begriff im traditionellen oder im modernen Sinne verstehen will. Darauf verweist schon – selbst dem flüchtigsten Blick erkennbar - ihre schiere Form, die in dem Titel ”Boxes” angedeutet wird, nämlich ihre mehr oder minder kubische, kästchenartige Gestalt. Gemälde sind üblicherweise bemalte Flächen, die meist durch einen Rahmen gegen ihre Umgebung abgegrenzt und so als autonome, eigenen Gesetzen unterworfene Kunst-Bezirke markiert sind. Doch bei den Boxes handelt es sich um dreidimensionale Objekte, um stereometrische Körper, die an der Wand hängen oder – seltener – am Boden aufliegen und rundum, d.h. an allen fünf sichtbaren Seiten, bemalt sind. Dies verweist auf einen Umstand von ganz allgemeiner Bedeutung: Die Boxes sind keine Bilder, der Begriff der Bildlichkeit steht bei Rietmeyer grundsätzlich in Frage. 

Dafür sind besonders zwei eng zusammenhängende, für die ästhetische Wirkungsweise der Boxes grundlegende Prinzipien verantwortlich: ihre Konzeption als mehrteilige Installationen sowie die prinzipielle Variabilität ihrer Anordnung. Auch wenn eine einzelne Box durchaus als eigenständiges Kunstwerk mit autonomer ästhetischer Aussage gelten kann, so doch bloß als extrem reduzierter Sonderfall von Installationsmöglichkeiten. Denn die Boxes sind so konzipiert, dass alle Exemplare einer Werkreihe miteinander kombinierbar sind und dass jede denkbare Teilmenge als eine legitime Interpretation des Werks erscheinen kann. So lassen sich die Teile einer Serie immer anders arrangieren, wodurch sie jeweils neue, oftmals überraschende Wirkungen zeitigen können. Die Anzahl der Boxes, ihre Anordnung, ja sogar die Ausrichtung ihrer Hängung sind dabei variabel und richten sich nicht zuletzt nach dem Raum, für den die jeweilige Installation gedacht ist, nach seinen architektonischen Besonderheiten, Proportionen und Lichtverhältnissen.  

Doch bei all dem handelt es sich keineswegs um eine rein formale Eigenart der Boxes, denn für Rietmeyer ist deren spezifische Gestaltungsweise und der offene, mehrere Perspektiven und Aspekte eröffnende Werkbegriff eng verknüpft mit einem inhaltlichen Aspekt. ”Inhaltlich” ist hier sogar in dem ganz wörtlichen Sinn zu verstehen, dass die Boxes nach Aussage ihres Schöpfers gleichsam dessen subjektive Befindlichkeiten ”enthalten”. Er versteht sie metaphorisch als Behältnisse seiner Eindrücke und Erlebnisse, die er an den verschiedensten Orten in aller Welt hatte, in Städten und Gegenden, die er bereiste oder in denen er wohnte und arbeitete. Dies bedeutet, dass er versucht, mit rein abstrakten Mitteln, d.h. mit der spezifischen Form der Boxes, ihrer Farbigkeit, ihrer spezifischen Oberflächenbehandlung sowie der Komposition aus Flächen und Linien eine diesen Eindrücken angemessene künstlerische Umsetzung zu finden und eine Atmosphäre oder Stimmung zu erzeugen, die diesen subjektiv gesehen entspricht. Die Suche nach adäquaten Ausdrucksmitteln hat Rietmeyer in letzter Zeit mehr und mehr dazu geführt, die Palette seiner verwendeten Materialien erheblich zu erweitern und solche Werkstoffe wie Glas, Beton oder Metall zu verwenden. Dies hat zur Folge, dass sie sich auch materialästhetisch mehr und mehr von der Gattung der Malerei entfernen und ihren Objektcharakter verstärkt betonen. Es überrascht daher nicht, sondern ist in der Logik der Konzeption seiner Boxes begründet, dass Rietmeyer sich immer öfter der Aufgabe großformatiger farbiger Skulpturen widmet.   

Auch wenn einige der nach Orten bzw. Regionen benannten Serien gelegentlich noch mittels bestimmter Farben oder womöglich als ”Horizont” lesbarer Linien ferne Erinnerungen an Landschaftliches wecken könnten, so handelt es sich dabei doch keineswegs um Landschaftsdarstellungen - oder allenfalls in einer sehr vermittelten und indirekten Weise, bei der es nicht mehr um das Ausehen der Landschaft, überhaupt nicht primär um Visuelles geht, sondern um die Formulierung einer subjektiv, mit allen Sinnen erlebten Erfahrung. Besonders deutlich wird diese nichtgegenständliche Konzeption bei den Porträtserien, die Rietmeyer seit 1999 anfertigt. Dort findet der Betrachter im Unterschied zur traditionellen Porträtkunst keinerlei Hinweise auf das äußere Erscheinungsbild der ”porträtierten” Personen, denn auch hier ist das subjektive Erleben, die emotionale wie gedankliche Umsetzung eines Gesamteindrucks, den diese Personen und ihr Werk hervorrufen (denn es handelt sich dabei – zumindest bisher – ausschließlich um Künstlerkollegen), das eigentliche Thema dieser Arbeiten. Die traditionellen Gattungen der Landschafts- bzw. der Porträtmalerei werden hier also in einen äußersten Grenzbereich hinein erweitert. Der formalen Offenheit von Rietmeyers Installationen entspricht ihre inhaltliche Unbestimmtheit: Wo nicht die Abbildung von Landschaften und Personen, sondern deren subjektives Erleben thematisch ist, geht es nicht länger um präzise formulierbare Sachverhalte, sondern um Atmosphärisches, Stimmungshaftes, um Realitäten, die vage und veränderlich, mithin begrifflich schwer zu erfassen sind. Mit dieser ihrer formalen wie inhaltlichen Offenheit lassen die Boxes dem Betrachter sehr viel Spielraum dafür, wiederum aus seiner jeweiligen individuellen und subjektiven Einstellung heraus, seine eigenen Assoziationen und Stimmungen anzubringen und seine jeweilige Lesart von Rietmeyers Arbeiten zu erproben. So eröffnen die Boxes einen Dialog mit dem Betrachter, indem sie ihn dazu auffordern, die schwierige und anspruchsvolle Frage zu reflektieren, wie und mit welchen Mitteln es der Kunst gelingen kann, etwas grundsätzlich nicht Sichtbares, nämlich subjektive Stimmungen, in eine anschauliche Form zu bringen, ihnen Sichtbarkeit und Dauer zu verleihen.     

(Juli 2002)